Bernhard Schlink: Der Vorleser BestBestSeller oder Much Ado About Few

Belletristik

Der Autor Bernard Schlink soll am 6. Juli 2019 75 Jahre alt werden.

Bernhard Schlink während einer Diskussion im Bowdoin College in Brunswick, Oktober 2018.
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Bernhard Schlink während einer Diskussion im Bowdoin College in Brunswick, Oktober 2018. Foto: Ps45md (CC BY-SA 4.0 cropped)

4. Juli 2019
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Anlass genug für die Züricher Diogenes Verlags AG, seinen dort zuerst 1995 erschienen Weltbestseller Der Vorleser und als dessen nunmehr 17. Diogenes-Buch nach dem manus-manem-lavet- (oder mir-kenne-uss-mir-helfe-uss-) Prinzip erneut herauszubringen – ging es doch in den letzten fünfundzwanzig Jahren für Verlag und Autor um etliche Millionen nicht nur verkaufter Bücher, sondern auch um Profite in Stutz sowie zunächst in DM und ab 2002 dann in Euro.

Vita Schlink

Auch wenn ich den Autor als stud.iur. aus meinem Heidelberger Winter(semester) 1970/71 und dem Umfeld der juskritisch-radikalen Zeitschrift Rote Robe[1] so gar nicht erinnern kann und Jahrzehnte später ein Porträt des langjährigen ZK-Sekretärs vom Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW)[2] in einem der kurpfälzischen Regionalkrimis von Schlink las – die nachhaltige Karriere dieses schreibenden Juristen fand auch ich in mehrfacher Hinsicht beeindruckend. Nicht allein wegen der akademischen Pfade[3] und ihrer Einzelheiten wie zunächst übliche Assijahre mit Promotion und Habilitation (1981 über einen Aspekt von nicht etwa der Montesquieuschen Gewaltentrennung, sondern wie hierzulande üblich der deutschbürgerlich verkürzten Gewaltenteilung), erste Professur für Öffenliches Recht in Bonn 1982/91 und 1992/2009 Ordinarius für Öffentliches Recht und Rechtphilsophie an der nun wieder ganzdeutschen Humboldt-Universität zu Berlin.

In Nordrhein-Westfalen wurde auch er wie's bei anstellig-parteinahen Juristen vorkommt ehrenamtlicher Richter am Verfassungsgerichtshof. Nach der deutschdeutschen Staatsvereinigung 1990 als juristischer Gutachter und HUB-Prof. herangezogen in der Treuhand-Causa in Sachen Verkauf des volkseigenen Berliner Aufbau-Verlags[4] und zuletzt his masters voice als Rechtsvertreter des letzten SPD-Bundeskanzlers zur formaljuristischen Legitimierung von Gerhard Schröders coup d'etat im Sommer 2005 mit seiner betrügerisch fingierten Bundestagsminderheit. Die zu Neuwahlen im Herbst und anschliessend zur zweiten (nun ganz)deutschen Grosskoalition unter Dr. Angela Merkel als der ersten CDU-Bundeskanzlerin 2005 führte.

So aufschussreich weitere Einblicke in rechtswissenschaftliche Politikberatung auf höhster Ebene in der Treuhandphase der ersten Hälfte der 1990er Jahre und später in den sechseinhalb Jahren der "rotgrünen" Bundesregierung (1998-2005) auch immer sein mögen – hier geht's um den Romancier Bernhard Schlink. Und auch wenn ich nach Lektüre von Schlinks nun vorletztem Roman Die Frau auf der Treppe (2014) den Eindruck hatte: dieser Autor hat sich endgültig ausgeschrieben – so kam doch 2018 ein neuer trilogisch angelegter dokumentarischer (von mir literatursoziologisch diskutierter[5]) Roman mit dem schlichten Vierbuchstabentitel Olga (2018) heraus.

Der Vorleser Roman

Schlinks Roman Der Vorleser erschien zuerst 1995. Er wurde ein Weltbesteller. Und soll bisher in 40 Sprachen – darunter 1997 als The Reader ins Englische – übersetzt worden sein. Verfilmt wurde Der Vorleser / The Reader (erst) 2008 in US-amerikanisch-deutscher Coproduktion (Länge etwa 124 Minuten, Regie Stephan Daldry). Vom literarischen Genre her handelt es sich beim Romanstoff eher um eine Novelle. Im Mittelpunkt steht Hanna Schmitz als ehemalige KZ-Aufseherin und spätere erste Frau des 1959 sexuell unerfahrenen 15jährigen Professorensohns Michael Berg in Heidelberg, dem Ich-Erzähler. Zum Plot der Handlungswirksamkeit des verdeckten Analphabetismus der Hanna als Leitmotiv kommt ein weiterer: das erneute Treffen des stud.iur. mit der Angeklagten Schmitz in der späteren Gerichtsverhandlung gegen sie.

Anstatt weiterer Inhalts- und Konfliktreferierungen sei vor Diskussion des speziell für die Schlink-Jubiläumsausgabe geschriebenen zwölfseitigen Nachworts nur auf drei kritische Beiträge hingewiesen: einmal auf einen gründlichen wissenschaftlichen Aufsatz als eingehende zeitgeschichtliche Auseinandersetzung mit dem Vorleser-Roman, seiner defizitären Holocaustdarstellung und seiner "irreführenden Repräsentanz" (Enno Patalas); zum anderen auf eine sublime Marginalie zu einem 2011 publiziertem Schlink-Aufsatz zur Zeitgeschichte[6]; und zuletzt auf eine frische Polemik mit amüsanten Spitzen gegen ungenügende Literarizität dieses Romans.[7]

Nachwort Kaube

Das Nachwort (209-220) hat weder Titel noch Untertitel. Seine 12 Seiten sind in I, II, III gegliedert. Und enthalten 18 Absätze. Als Autor zeichnet der Jounalist Jürgen Kaube, seit 1992 bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), dort ab 2008 Leiter des neugeschaffenen Ressort Geisteswissenschaften und seit 2015 Feuilletonchef und zugleich einer der FAZ-Herausgeber.

Unter I greift der Nachworter mit Aristoteles Poetik in seine Bildungskiste, klassifiziert den Roman als "verwickelte Erzählung" mit dem Rätsel einer "unerhörten Begebenheit" und der "plötzlichen Einsicht, dass Hanna Schmitz weder lesen noch schreiben konnte" – was auf die Konstruktion eines "Zusammenhangs von Bildungs und Unmoral" verweist. Vorlesen psychologisiert Kaube als "Ersatzhandlung" sprachloser "Figuren, die selbst weder willens noch in der Lage sind, zu artikulieren, was in ihnen vorgeht. Sie sagen einander nichts." – Unter II deutet Kaube im Anschluss an eine Beobachtung Hannah Arendts aus dem Nachkriegsdeutschland 1949 "die merkwürdige kollektive Apathie der Deutschen" als Folge ihrer bösen Unmenschlichkeit und des unmenschlich Bösen, das "keinem Gesetz folgt", vielerlei ausdrücken kann und sich "nur durch die Unempfindlichkeit" gegenüber jeglicher conditio humana auszeichnet als – so Mitscherlichs griffige Formel 1967 – Unfähigkeit zu trauern.

Schlinks Roman drückt über "den Unwillen zu weinen" Allgemeines aus: "Vorbehalte gegen den Sinn des Sprechens" und die Botschaft, "dass Kommunikation keinen Sinn hat." – Der kurze Schlussakkord unter III beginnt mit der Banalität: "Literatur ist keine Geschichtsschreibung" und endet mit dem erweckungsliterarischen Hinweis: besser "philosophisch das Falsche machen [...] als die grosse Lebensnot mit sich selbst abzumachen" – was Kaube als "protestantische Überwölbung" der Frage "moralischer Schuld" gilt und für ihn zugleich die "Faszination" von Schlinks Romans ausmacht.

Ob diese bombastische Interpretationskaskade des FAZ-Journalisten als Eloge oder Lob des Schlinkschen Vorleser taugt oder nicht – mögen andere beurteilen. Ich hätte die Stunden lieber produktiver verbracht als mit der Lektüre von Kaubes oberlehrerhaft-verkwastem Deutungschwulst. Und das nicht zuletzt deshalb, weil ich diesen inzwischen zum FAZ-Mitherausgeber avancierten Journalisten aus den Nullerjahren als geistig regen und punktig formulierenden Autor erinnere, der – tempi passati, lange vergangene Zeiten – kritisch gegen eine elitäre Kaste und ihren redseligen Selbsterhalt polemisierte (FAZ 7. 1. 2004: 29), ihr "Selbstkritik" empfahl (FAZ 17. 9. 2007: 35) oder sich engagiert in öffentliche Debatten zur Schulpolitik (FAZ 28. 8. 2007: 33; FAZ 5. 12. 2007: 37) einbrachte und sich auch nicht scheute, den destruktiven kulturellen Einfluss etwa von Bertelsmann und google (FAZ 21. 10. 2007 [und] 12. 8. 2008) öffentlich zu kritisieren.

Richard Albrecht

Bernhard Schlink: Der Vorleser. Roman. Diogenes Verlag AG, 2019. 220 Seiten. ca. 32.00 SFr. ISBN 978-3-257-07066-8

Fussnoten:

[1] Inzwischen komplett netzöffentlich zugänglichhttp://schlink.rewi.hu-berlin.de/schlink; s. als Einführung Freia Anders, Juristische Gegenöffentlichkeit zwischen Standespolitik, linksradikaler Bewegung und Repression: Die Rote Robe (1970–1976); in: sozial.geschichte online, 8 (2012): 9-46. - Alle Netlinks zu diesem Beitrag wurden mit Manuscripsabschluss am 20. 6. 2019 überprüft.

[2] Bernhard Schlink, Selbs Betrug. Roman. Zürich: Diogenes, 1994: 186-188.

[3]http://schlink.rewi.hu-berlin.de/schlink

[4]http://www.buchmarkt.de/content/31124-affaereniii.htm [und]http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/aufbau-verlag-ein-verleger-unter-raeubern-1539691-p2.html?printPagedArticle=true#pageIndex_3

[5] Richard Albrecht, Olgas Welt. Zu Bernhard Schlinks neuem Buch; in: soziologie heute, 58/2018: 41-44.

[6] Bernhard Schlink, Die Kultur des Denunziatorischen; in: Merkur, 65 (2011) 745: 473-486.

[7] Jürgen Zarusky, Betäubung einer Vergangenheit. Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser“ (1995): in: Epos Zeitgeschichte. Romane des 20. Jahrhunderts in zeithistorischer Sicht. Hg. Johannes Hürter; Jürgen Zarusky. München 2010: 133–152; Rainer Maria Kiesow, Mein Grossvater; in: myops, 13/2011: 67-75; Magnus Klaue, Lahme Literaten 7: Bernhard Schlink, in: Jungle World, 11/2019:https://jungle.world/artikel/2019/11/bernhard-schlink

[8]https://www.rowohlt.de/autor/juergen-kaube.html